Der Eurovision Song Contest (ESC) ist eine der größten (inoffiziellen) „Marktforschungsinstrumente“ für den aktuellen Gefühlszustand in der Gesellschaft und zeigt Jahr für Jahr, wie sich differenzierte Kunst gegen Pop-Kultur nach wie vor hervorragend durchsetzen kann. Eine der eindrucksvollsten Geschichten in diesem Zusammenhang entstand 2017 und dem klaren Gewinn von Salvador Sobral mit dem Lied „Amar Pelos Dois (For The Both Of Us)“[1]. Ein Lied, ohne jetzt in die Tiefen der Kunstkritik einsteigen zu wollen, das besonders die Herzen der Menschen auf überraschend einfache Weise erreichen konnte. Es zeigt, die Herzen der Menschen, die Liebe, das Gefühl für Zweisamkeit ist weiterhin in der Gesellschaft mehrheitsfähig vorhanden.

Freilich ist das nur eine von ganz vielen Episoden, die wir aus Kunst und Kultur beschreiben können, die zeigt, wie wichtig und wie wesentlich Emotion und Gefühle sind. Erich Fromm[2] schreibt ganz klar, dass wir lieben können, im Grunde alle und jeden[3]. Alfred Adler[4] beschreibt in diesem Kontext das „Gemeinschaftsgefühl“.

Die Ökonomie geht von anderen Parametern aus, die sich ganz wesentlich in der Popkultur widerspiegeln. Alles ist kommerzialisierbar, alles käuflich und am Markt verfügbar. Es geht uA um den Unterschied zwischen „Freude“ und „Spaß“. Wenn wir das Konzept des „homo oeconomicus“ nehmen, dann strebt dieser nach der Maximierung seines individuellen Nutzens. Die Frage, die in diesem Kontext offenbleibt: Was ist der individuelle Nutzen?

Dies ist in erster Linie eine kultur-anthropologische und keine monetäre Frage, so die These. Der „monetäre“ Wert verändert sich über die Geschichte, die „Ökonomie des Sterbens“ ist eng an Spiritualität und Religion geknüpft. So es dabei um die Maximierung von „Freude“ und „Glück“ geht, so ergeben sich vollkommen andere Wertigkeiten und Verhalten, als wenn es um die Maximierung von „Spaß“ geht.

Es macht definitiv keinen „Spaß“, einen sterbenden Mensch zu begleiten, doch es kann ganz tiefgehende „Freude“ und „Glückseligkeit“ entstehen, vor allem, wenn es noch dazu ein Mensch ist, dem Mann/Frau liebt, also die Mutter, der Vater oder die Partnerin/der Partner oder enge FreundInnen. Ich würde sogar so weit gehen, dass neben (1) der Geburt, (2) der exklusiven erotischen Liebe in einer Partnerschaft, letztlich (3) der Tod das beste Potential für „Freude“ und „Glückseligkeit“ (im Anschluss an die Trauer) in sich trägt. Somit müsste sich ein nutzenmaximierender „homo oeconomicus“ genau diesen drei Bereichen im Leben am stärksten widmen. Sie bringen den besten Nutzwert, den der Liebe und das Erleben der damit verbundenen Gefühle. Die Existenz wird spürbar, wird er-lebbar, wir er-leben.

Der soziale Beruf ist in diesem Kontext in einer schwierigen Situation und durch die „Leistungs- & Wettbewerbsgesellschaft“, wie auch die „Konsum-, Spaß- & Popkultur“ unter Druck. Das „Sterben“ ist Anfang des 21 Jhd. nicht populär, nicht wertvoll.[5]

Das Sterben hat aktuell kein Marketing, doch das Sterben eines besonderen Menschen ist aus ökonomischer und kommerzieller Sicht ganz eindeutig ein „Luxusgut“ mit (nahezu) unbezahlbarem Wert für das „Sein“ im Unterschied zum „Haben“.[6] Das tiefgehende Gefühl von Glückseligkeit liegt ausschließlich in der Pflege von menschlichen Beziehungen (Alfred Adler). Die Intensität des Lebens, das Gefühl, am Leben zu sein, ist gerade dann paradoxer Weise am stärksten, wenn der Tod näherkommt.[7]

FreizeitsportlerInnen erleben dies durch einen kick bei Extremsportarten, bei denen der Reiz gerade darin besteht, dass es die Möglichkeit gibt, sich dabei zu verletzen oder gar zu sterben. Ein Orgasmus beim Sex wird auch als der kleine „Tod“ bezeichnet, Schmerz wird zu Lust und umgekehrt, je nach individuellen Vorlieben und Empfindungen.Insofern baut „Spaß“ auf einer oberflächlichen Empfindung der schnellen Reizbefriedigung auf, der im Konsum aufgeht.

„Freude“ und „Glückseligkeit“ hingegen ist dabei eher die kleine Schwester von Schmerz, Leid und Trauer.

In der Geriatrie ist klar, worum es geht – den Menschen ein möglichst würdevolles und angenehmes Sterben zu ermöglichen. Das Sterben ist somit ein „Ziel“. Das „Management by Objectives“ impliziert die Tragödie des Sterbens, das Scheitern. Nichts, worüber in einer Leistungsgesellschaft gesprochen werden will, eine Gesellschaft des „Marketing-Ichs“ (Erich Fromm), eine Gesellschaft des „sich besser darstellen“. Dabei ist der Weg zum Sterben jedenfalls zumeist nicht „einfach“, kein „Spaß“, das soll an dieser Stelle keinesfalls romantisiert werden. Der Verfall von Körper und Geist ist ein Prozess, der mit allerlei ekelhaften Dinge verbunden ist.[8] Allerdings liegt die Überwindung des Gefühls von „Scham“ im Kern eines humanistisch entwickelten Menschen.[9]

Der aktuelle gesellschafts-ökonomische Trend geht dahin, dass die Pflege und somit auch die (intensive) Begleitung des Sterbeprozesses aus der Familie, somit aus dem s.g. „Leiensystem“, outgesourced wird an eine professionelle Organisation.[10] Sterben wir als „Versagen“ im Kontext der Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft bewertet. Die Ursache dafür liegt – so die These – in der Kommerzialisierung von Liebe und der Verdrängung von Schmerz, Trauer und Verletzlichkeit im Kontext von Leistung und Wettbewerbsfähigkeit. Dabei ist die Voraussetzung für das Empfingen von Liebe die Fähigkeit für das Eingestehen von Verletzlichkeit (vulerability) und Schwäche.

Das Sterben ist der „Höhepunkt“ unserer Schwäche, unserer Verletzlichkeit und trägt somit großes Potential für die Liebe in sich. Die großen Dramen in Kunst und Literatur handeln vom Sterben [11] und einer damit in Verbindung stehenden Liebe.[12]

Real-gesellschaftlich und -politisch verliert das Sterben und all die „Freude“ und „Glückseligkeit“, die damit in Verbindung erlebt und empfunden werden kann, allerdings an Bedeutung und Wert – so die These. Der Humanismus, die Menschlichkeit zeigt sich – so die weitere These – am stärksten bei Geburt, Partnerschaft und Sterben.

Liebe und Respekt sind nicht käuflich.[13] Beides ist im Prozess des Sterbens am stärksten empfindbar, am intensivsten spürbar. Der Wert ist ein Gefühl. Monetär reduzierte Ökonomie kann das nicht verstehen, ist nicht messbar. Dabei ist der individuelle (Grenz-)Nutzen ökonomisch gesehen nahe unendlich. Die Liebe als unbezahlbarer Wert ist im Prozess des Sterbens am stärksten. Der Wert des Lebens ergibt sich ausschließlich aus den sozialen Beziehungen (Alfred Adler). Die Beziehung zu einem Menschen, den wir lieben, wird im Prozess des Sterbens am intensivsten und somit am wertvollsten.

Diesen Wert aus der Öffentlichkeit, aus der Gesellschaft und aus der Familie auszuschließen, reduziert unter dieser Betrachtung den Nutzen von Leben und führt zu einer kollektiven „seelischen“ Verarmung von Gesellschaft.

In jeder Diskussion um die „Effizienz“ der Pflege müsste somit aus meiner Sicht dieser Aspekt mit berücksichtig werden, der Aspekt der Liebe und dessen Wert für das Leben und Sterben.

Der ESC und das Beispiel von Salvador Sobral zeigt, dass die Menschen weiterhin ein Gespür für die Liebe haben. Somit sollte es einen „Bedarf“ für die Sterbebegleitung eines geliebten Menschen im „Laiensystem“ geben, so dieser Prozess in seinem Nutzwert nicht (quantitativ) ökonomisch reduziert wird, sondern (qualitativ) als eine Lebens- und Selbsterfahrung mit quasi unendlichem „Grenznutzen“ betrachtet wird.

Die Menschlichkeit und somit der Wert des Lebens beginnen dort, wo die Messbarkeit aufhört, könnte in diesem Kontext – zugegeben etwas pathetisch – formuliert werden.


[1] https://eurovision.tv/participant/salvador-sobral, zzg. am 26.11.2020

[2] Erich Fromm in z.B. „Die Kunst des Liebens“.

[3] „Du kannst nicht jeden Menschen mögen, doch kannst Du jeden Menschen lieben.“

[4] Alfred Adler in z.B. „Gesammelte Werke“.

[5] Es ist ein wenig wie im Supermarkt, wo eine Flasche Cola deutlich mehr kostet, als ein Liter Milch, wobei die Milch deutlich aufwendiger herzustellen ist und unmittelbar aus der Natur entstammt. Doch Cola ist „cool“ und „hip“. Eine Folge von zugegeben geschicktem Marketing.

[6] Vgl. Erich Fromm: Vom Haben zum Sein.

[7] Vgl. zB Albert Camus

[8] Wer will schon zB die Fäkalien eines alten Menschen, wenn Sie/Er gleichzeitig einen Cappuccino im Trend-Café trinken könnte.

[9] Vgl. zB Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation.

[10] Staatlich oder privat organisiert spielt in diesem Kontext bzw. in dieser Betrachtung keine wesentliche Rolle zunächst, da es hier um keine Effizienzüberlegungen geht. Es soll hier auch nicht weiter darauf eingegangen werden, ob nunmehr eine „Laiensystem“ für die Pflege Kosten sparen kann oder nicht.

[11] Vgl. zB Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein.

[12] zB zuletzt „A Star is Born“ oder “Titanic”

[13] Vgl. Michael J. Sandel: What money can’t buy.