(c) Karl Baumann 2014: Drahtzaun, Irland im April, Samsung NX20

Wir haben die Fähigkeit, uns Erinnern zu können. Jede dieser Erinnerung ist verknüpft mit einem Gefühl, mit Geruch, mit Bildern aus der Vorstellung und Phantasie, eine Realität, die längst vergangen ist und doch ist sie im hier und jetzt.

Das Vermissen ist im Jetzt, im aktuellen Moment und es bedingt zunächst kein Erinnern. Es ist ein Gefühl, einzig ein Gefühl, das im Moment der Gegenwart passiert. Ein Gefühl von Leere, ein Gefühl von Einsamkeit.

Eine schöne Paradoxie, die Paradoxie des Erinnerns: Ist das eine vergangen, so ist das andere gerade im hier und jetzt und dabei ist ein Mehr an Erinnern ein Weniger an Vermissen. Das nennt man dann Aufarbeitung. Der Gedanke überwältigt das Gefühl. Die Erinnerung ist wunderschön – eine gemeinsame Radtour, ein gemeinsamer Spaziergang, eine gemeinsame intime Berührung, ein Blick in die Augen. Die Erinnerung ist schön. Sie lebt in uns und wir können sie verdrängen oder mit ihr als Teil unserer Seele leben.

Löst die Erinnerung ein starkes Gefühl des Vermissens aus, so ist die Verdrängung fatal, bestenfalls kurzfristig hilfreich, als harter „Drogenentzug“ gegen die Verliebtheit. Doch dauerhaft würde es unsere Seele zerstören und unser Herz eiskalt erstarren lassen.

War das Gefühl der Verliebtheit oder Liebe intensiv und ausgeprägt, so ist das Vermissen mit unbeschreiblichem Schmerz verbunden. Die Erinnerung, vor allem der Geruch, da eine Zahnbürste, da ein Lächeln, da die Sonnenstrahlen auf der Haut, die Berührung und vielleicht ein Kuss sind unerträglich und lassen die Tränen der Trauer fließen. Sie tun gut.

Die Erfahrung ist gemacht, sie ist passiert und war wunderschön. Jetzt „geht sie ab“. Die aktuelle Situation ist eine andere, eine ohne die Person, die ich vermisse, weil ich sie liebe. Mann/Frau könnte zufrieden alleine sein, doch da ist das Vermissen. Mann/Frau könnte sich nur auf sich konzentrieren, doch die geliebte Person geht ab und ist durch nichts und niemanden zu ersetzen. Das macht es so schwierig.

(…)

BENVOLIO
Folg meinem Rat, vergiß an sie zu denken!

ROMEO
So lehre mich, das Denken zu vergessen.

BENVOLIO
Gib deinen Augen Freiheit, lenke sie
Auf andre Reize hin.

ROMEO
Das ist der Weg,
Mir ihren Reiz in vollem Licht zu zeigen.
Die Schwärze jener neidenswerten Larven,
Die schöner Frauen Stirne küssen, bringt
Uns in den Sinn, daß sie das Schöne bergen.
Der, welchen Blindheit schlug, kann nie das Kleinod
Des eingebüßten Augenlichts vergessen.
Zeigt mir ein Weib, unübertroffen schön:
Mir gilt ihr Reiz wie eine Weisung nur,
Worin ich lese, wer sie übertrifft.
Leb wohl! Vergessen lehrest du mich nie.”

(…)

William Shakespeare: “Romeo und Julia”, Erste Szene, Apple Books.

Das Vermissen ist ein Gefühl, nichts als Gefühl, das rational und vernünftig nicht erklärt werden kann. „Du gehst mir ab“ ist Ausdruck eines tiefgehenden Bedürfnisses, einer Sehnsucht, in dem schon das Wort „Sucht“ enthalten ist. Biochemisch und hormonell lässt sich das heute gut und einfach erklären, durch Chemie sogar relativ einfach manipulieren. Schmerzmittel helfen gegen Liebeskummer besser als Antidepressiver. Anscheinend, ich kenne das nicht.

Das Vermissen ist vielmehr Schmerz denn Glück. Es geht einem etwas ab, das schön war und jetzt in Vorstellung schön wäre, wenn es da ist. Das Vermissen steigert das Begehren und so hat es auch etwas Gutes, ist Teil des Umgangs mit der Nähe-Distanz-Balance.

Der Schmerz über das Vermissen wird zum Gefühl der Existenz, das pure Leben. So ist das mit der Ästhetik – zu viel ist Schmerz, zu wenig ist Langeweile. Liebe, Gesundheit und Frieden sind archetypisch gleich. Sie sind erst dann etwas wert, spürbar und erlebbar, wenn Sie entzogen werden oder nicht weiter vorhanden sind. Das könnte auch zum Spiel benutzt werden, ein Spiel mit fatalen Folgen zumeist.

Irgendwann vergeht es, das Vermissen. Aus dem Erinnern wird dann ein Vergessen. Und mit dem Vergessen vergeht das Vermissen. Die Zeit heilt alle (seelischen) Wunden, sofern uns die Zeit gegeben wird. Ansonsten droht der Suizid.

Doch die Liebe, sie bleibt, ein Leben lang, denn sie ist ein Gefühl. Die Zeit hilft, die Erinnerung zu verarbeiten, die Intensität der Gefühle schwinden zu lassen. Die Erinnerungen verblassen und die schönen und positiven bleiben, so hat es die Evolution eingerichtet, überwiegend. Das ist (seelische) Heilung.

Das Gefühl des Vermissens schwindet. Das schlechte Gefühl im hier und jetzt vergeht und verändert sich in ein schönes Erinnern. Abrufbar aus der Vergangenheit und durch die Macht der Phantasie wird es zur Realität in der Gegenwart. Aus Trauer wird Freude und vielleicht sogar ein Gefühl von Glückseligkeit über das Schöne, das da war.

Das Vergessen ohne Aufarbeitung wäre nur scheinbar und treibt uns in die sichere Depression durch die ständige Last im Inneren von uns selbst. Die Verdrängung die reinste Anleitung zum Unglück. Das Vermissen ist der Schmerz der Konfrontation bei der Qual der Aufarbeitung.

Das Gefühl des Vermissens ergibt sich aus der Erinnerung, der Kummer und Schmerz benötigt diese nicht. So wird aus dem Gefühl des Vermissens eine Erinnerung mit Gefühl, Geruch und Bildern aus der Vorstellung und Phantasie. So wird aus dem Schmerz ein Gefühl von Glück, im besten Fall. So wird aus dem Vermissen eine schöne Erinnerung im hier und jetzt und die Offenheit für Neues kehrt zurück. Und doch, es ist nicht mehr wie zuvor.