(c) Karl Baumann 2010: Unklar, Nokia 71

Es ist im Kontext der aktuellen Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft und dem damit verbundenen Streben nach (monetärem oder materieller) Kapital-Anhäufung überaus populär, Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen auf das Konzept des „Narzissmus“ zurückzuführen.

Dazu gibt es aus meiner Sicht zwei wesentliche Dinge zu sagen:

  • Aus der intensiven Auseinandersetzung mit epistemologischen Fragen, also Fragen zur oder der Erkenntnis, wird deutlich, dass „Begriffe greifen“. Die Sprache ist gewiss nicht die Grenze der Welt, wie das Wittgenstein in seinem „Tractatus“ angenommen hatte und wie er es später auch revidiert hat, denn die Sprache ist nur eine Ausdrucksform, eine Möglichkeit der Kommunikation. Daneben lassen sich zumindest auch Bilder, Zeichen, Gesten, Berührungen, usw. nennen. Doch die Sprache ist zweifellos eines der wesentlichen Formen, über die wir kommunizieren und deshalb ist die Rhetorik wesentlich, sind die Begriffe ent-scheidend. Die Zuweisung von Begriffen auf Gegenstände ist Einteilung, die Zuweisung von Bezeichnungen auf Menschen sind Pathologisierungen. Weder ist die/der ArztIn nur Ärztin, weder ist die/der GeschäftsfüherIn nur GeschäftsfüherIn, noch ist die/der KurzzeitarbeiterIn nur KurzzeitarbeiterIn, noch ist die/der BundeskanzlerIn nur BundeskanzlerIn, denn Sie alle sind zu aller erst Menschen mit ganz unterschiedlichen Charakteren.
    Einen Charakter mit „Narzisst“ zu beschreiben, gilt als „selbstverliebt“ oder „egoistisch“ oder „egozentrisch“. Den krankhaften „NarzisstInnen“ wird eine pathologische „Beziehungsfähigkeit“ zugeschrieben. Sie könnten – verkürzt – nur mit sich selbst eine Beziehung führen und wären nicht im Stande, andere Menschen zu lieben. Sie wären folglich auch nicht im Stande, eine Liebesbeziehung oder Partnerschaft zu führen.
  • Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaften verlangen um erfolgreich zu sein, sich selber darzustellen – Erich Fromm nannte es das „Marketing-Ich“ und Wettbewerb fördert Minderwertigkeitsgefühle durch das ständige Ankämpfen gegen die Konkurrenz. Streben nach materiellen Wohlstand fördert die mimetischen Kräfte – Gier, Neid, Eifersucht. All das führt zu Menschen, die eher sich selbst und ihren eigenen Vorteil im Fokus haben, als das Gemeinwohl oder Gemeinschaftsgefühl, wie es Alfred Adler beschreibt. Es führt auch dazu, dass es eine Epidemie von gescheiterten Beziehungen gibt. Doch würde ich bezweifel, dass dies damit erklärt werden kann, dass nunmehr eine Vielzahl von Menschen zu (krankhaften) NarzisstInnen mutiert sind.
    Dabei sind sich die Meister ihres Faches in diesem Punkt auch höchst uneinig. So wir „Narzissmus“ mit „Selbstliebe“ übersetzen, so finden sich unzählige AutorInnen, die davon ausgehen, dass die „Selbstliebe“ die wesentliche Voraussetzung dafür ist, um überhaupt Liebe für eine Person empfinden zu können (z.B. Ich, Du, Wir).
    Andere hingegen sehen genau in der „Selbstliebe“ die Wurzel allen Übels innerhalb von Beziehungen, als eben im Sinne des „Narzissmus“ keine echte, wahre Liebe zu einer anderen Person entwickelt werden kann, bestenfalls eine Art Projektion.

Mein Resümee aus der Erfahrung und dem Studium der Literatur und mein Vorschlag für die Auflösung wäre die Frage nach dem „Selbstwert“, „Selbstwertgefühl“ und dem damit unmittelbar in Verbindung stehenden „Selbst-Bewusstsein“.

Die Kategorisierung oder auch Pathologisierung hat dabei keine weitere Bedeutung.