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Das Recht auf freie Rede (Meinungsfreiheit) ist zu Beginn des 21. Jhd. verbannt in die so genannten „speakers corner“, die bestenfalls noch als Touristenattraktionen akzeptiert werden. Belächelte oder als irrsinnig abgestempelte machen dort ihre Gedanken öffentlich.

Vergangen und allzu vergessen sind die Zeiten im alten Athen, wo Philosophen wie Sokrates, Aristoteles oder Platon an öffentlichen Orten gelehrt haben und ihre Thesen in freier Rede verbreitet haben. Und wie wir aus dem tragischen Schicksal von so manchen Philosophen dieser Zeit wissen1as bekannteste davon ist wohl der Selbstmord in Gefangenschaft von Sokrates (469 – 399 v.Chr.), ausgeführt mit einem mit Gift gefüllten Kelch., war auch zu dieser Zeit „keine Rede“ von einer freien Rede.

Zensur ist somit ein Phänomen oder eine gesellschaftliche Tatsache, die sich seit der Entwicklung von menschlichen Kulturen beobachten lässt. Somit stellt sich keineswegs und zu keiner Zeit die Frage „ob“ Zensur vorhanden war und ist, sonder „wie“ sich Zensur in unsere Systeme „schleicht“, „wie“ Zensur zur Anwendung, zur Tat(sache) werden kann.

In diesem Text will ich vor allem auf die modernen Methoden eingehen, die sich besonders nach den 1970iger Jahren entwickeln konnten. Sie sind unmittelbar in Verbindung zu setzen mit (1) dem Glauben an Evaluation, der (2) Metrisierung von Beurteilung, der (3) Ausgestaltung von Spezialisten-Denken, den (4) damit verbundenen Aufbau von monotonen Gruppe (tight communities) und den (5) Verlust von Kritik.

Evaluation und Zensur (1)

Wie sonderbar naive müssen all diejenigen sein, die tatsächlich gedacht haben, dass Evaluation dazu führen wird, dass Forschung, Lehre oder gar Kunst sich verbessern. Evaluation ist in erster Linie eine wunderbares Instrument, um zu zensurieren, wo es nur geht. Mag es vielleicht einmal als Mittel, Methode oder Instrument gegen Zensur intendiert gewesen sein, so sieht der Befund nach einigen Jahren nicht gut aus. Evaluation kann, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit Transparenz erfolgreich sein. Viele haben es nicht einmal so weit gedanklich geschafft und diejenigen, die soweit gekommen sind mussten feststellen, dass die gewünschte Transparenz in der Urteilsfindung nicht herstellbar ist. Insofern haben so manche Evaluationsmaßnahmen, die zu Vorschriften, Regeln, etc. geführt haben, in erster Linie dazu geführt, dass sich die Möglichkeiten der Verwischung von Transparenz in der Urteilsfindung vermehrt haben – das Gegenteil von dem, was im Sinne einer Reduktion von Zensur wünschenswert wäre.

Metrisierung und Zensur (2)

Um Evaluation möglich zu machen wurde vor allem eine heftige Diskussion um „die richtigen Messkriterien“ geführt. Eine Diskussion, die als Themenverfehlung insofern einzustufen ist, da es methodisch jedenfalls schlechter ist, sich über passende Messkriterien zu einem Subjekt/Gegenstand, etc. zu unterhalten, als sich unmittelbar über das Subjekt, den Gegenstand, etc. zu unterhalten. Forschungsmethodologie und Kunstkritik stellt dazu ausreichend und über Jahrhunderte gewachsenes Methodenwissen zur Verfügung. Diese müsste nur auch weiterhin vermittelt und praktiziert werden, was in der Moderne jedoch als umständlich, teuer, wirkungslos, abgehoben, theoretisch abgetan wird. Statt dessen sollen anhand möglichst einfacher Messkriterien Kunst und Forschung, ja ganze Universitäten beurteilt werden. Journals sind eingeteilt in A, B, C, Universitäten eingeteilt in Elite und Normal und werden Rankings unterzogen, KünstlerInnen werden an dem Verkaufswert ihrer Werke geratet, dies nur einige Beispiele von Trivialisierung und Metrisierung. Dabei weiß so jedEr2Übrigens aus meiner Erfahrung auch diejenigen, die sich diese Messkriterien, Rankings, etc. ausdenken., dass sich das Ergebnis einer Messung einfach über die Auswahl der Messkriterien steuern lässt. So stehen dann irgendwann in den so genannten A-Journals3Die noch dazu ohnehin nahezu niemand tatsächlich liest. immer die gleichen Texte, gleichen Theorien, gleichen AutorInnen, weil die anderen nicht den Messkriterien genügen. Die Qualität eines Textes wird reduziert auf wenige metrische Messkriterien (Referenzierungen, Anzahl von Zeichen, etc.) – das moderne wissenschaftliche System ist nicht besser als ein Google Pagerank. Zensur kann sich ausbreiten, indem Texte, Kunstwerke, Forschungsanträge, etc. schlicht damit abgelehnt werden, weil sie „zu schlecht“ sind, weil das Rating auf der Grundlage von Messkriterien „zu schlecht“ ist. All zu viele Verkrüppelte, Untertänige schenken dem Urteil glauben, beugen sich dem und hören auf zu arbeiten.4Auch im 21. Jhd. erhalten viele LiteratInnen, ForscherInnen, KünstlerInnen, etc. erst nach ihrem Tod Wertschätzung. Daran hat sich kaum etwas verbessert. Der Roman von Heinrich Mann “Der Untertan” (erstmals erschienen 1918) hat nichts an Brisanz verloren.

Spezialisierung und Zensur (3)

Es gehört schon einige Zeit und einiges Literaturstudium dazu, um sich in Forschungsmethodologie einzulesen, um sich dort auszukennen und es einigermaßen fundiert praktizieren zu können. Ein kurzer Blick auf die Studienpläne von Jus, Wirtschaftswissenschaften, Technik zeigt schnell ein bitteres Bild in diesem Bereich. Die bislang beste Methode im Umgang mit Zensur, fundierte Forschungsmethodologie, wurde aus den Studienplänen „vernichtet“, Evaluation und messbare Bewertungskriterien eingeführt. Ohne Forschungsmethode, ohne Arbeitsmethode in der Kunst, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet und Spezialistentum kann sich ausbreiten wie die Pest. Texte sind gespickt mit Fremdwörtern, Abkürzungen, Symbolen, etc., die alle zwar im Grunde nach relativ einfach zu verstehen wären, jedoch eine Art Meta-Erklärung benötigen, damit sie verstanden werden können. SpezialistInnen entwickeln ihre eigene Sprache, eigene Symbolik, um sich immun zu machen gegen Angriffe von anderen Disziplinen. Keine von ihnen hat noch die Ressourcen, sich die Sprache der anderen anzueignen. Karrierewege werden damit abgesichert, Theorien quasi unantastbar gemacht. Zensur kann sich wunderbar ausbreiten, denn nur noch wer die „Sprache der SpezialistInnen spricht“, kann mitreden.

Communities und Zensur (4)

Die SpezialistInnen bilden eigene Gruppen aus, das „müssen“ sie quasi, weil sie sonst ja niemand mehr versteht.5Das geht soweit, dass sie sich sogar darüber beklagen anfangen, dass sie von niemanden verstanden werden. Dabei haben sie selber das “Unverständnis” durch die Spezialisierung – vor allem der Sprache – erfunden. „group think“ ist die Folge, sie bestätigen sich immer fort selber und was auch immer nicht zur Gruppe passt, wird ausgeschlossen, zensuriert.

Kritik und Zensur (5)

Evaluation, Metrisierung, Spezialisierung und Communities führen letztlich dazu, dass Forschungsmethodologie ausstirbt und mit ihr Kritik.6Einen negativen Höhepunkte – quasi eine Art “Freibrief” für Zensur – findet dies bei der Forderung (vor allem aus der Reihe von Management-Anleitungen zum Erfolg) nach “konstruktiver” Kritik. Kritik kann sich nur über den Diskurs entwickeln und beruht darauf, dass methodisch fundiert jederzeit alles völlig neue gedacht werden kann. Die Aktionen werden mit dem Wissen gesetzt, dass das momentane Verständnis immer schon grundsätzlich einen Schritt dem Zukünftigen hinterher hinkt. Die aktuellen Maßstäbe für die Beurteilung sind in den Moment antiquiert, in dem sie zur Anwendung kommen und doch haben sie sich bewährt. Doch das „sich bewährt haben“ bedeutet keinesfalls, dass sie auch zukünftigen Anforderungen und Kontexten entsprechen können und werden. Dieses Dilemma, dieses Paradoxon kann nur durch möglichst unzensurierte Kritik behandelt, jedoch nie ganz behoben werden.