(c) artémis athénaïs 2010: Disguised

Kritik und double bind

So Arbeit auf die Kategorie Leistung reduziert wird und dies ist in der kommerzialisierten Gesellschaft zumeist der Fall, so stellt sich die Frage, wie es zu einer Wertigkeit von Leistung kommt?

Es stellt sich die Frage, wie Leistung in einem sozialen Kontext zu verstehen ist und welche Qualität sie besitzt?

So es sich um Menschen handelt, die recht stark in (linearen) Prozessabläufen denken, kommt als Ergebnis verschiedener Beobachtungen die Vermutung auf, dass hierbei Leistung unmittelbar mit Selbst- bzw. Fremdausbeutung im Zusammenhang zu stehen scheint.

  • Glück ist etwas, das nicht weitere bezahlt werden muss, weil es Freude ist.
  • Eine Bezahlung ergibt sich vielmehr aus dem Arbeitsleid einer Tätigkeit, dem Opfer, das für die Arbeit erbracht wird.
  • Der Begriff der Leistung „objektiviert“ diese Sicht insofern, als eine Leistungsmessung durchgeführt wird. Die Kriterien, die hierbei zur Anwendung kommen, sind nunmehr wesentlich, in der Bewertung durch eine Vorgesetzte.

Tut nun jemand etwas „leidenschaftlich gerne“, so muss schon einiges passieren, dass es dafür auch eine Bezahlung gibt. Die Tätigkeit wird wohl nur dann entsprechend honoriert, wenn sie gesellschaftlich anerkannt ist oder weil die Ergebnisse bemerkenswert gut sind. Wobei beides ganz stark kulturspezifisch geprägte Aussagen sein werden.

Daraus kann sich gerade bei jemand, dessen Passion in der Beobachtung und Kritik der unmittelbaren Handlungen liegt, ein enormes Spannungsfeld ergeben, als das Üben von Kritik mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in derselben Situation zu Ablehnung führt: „_Wer will schon gerne kritisiert werden?_“, wäre der Volksmund zu einer derartigen Situation.

So die Kritik der Person aus altruistischen Motiven passiert, indem versucht wird, auf einen möglichen Mangel, eine Schwäche oder – anders herum – auf ein Verbesserungspotential hinzuweisen, so besteht eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Form der Anerkennung für diese Tätigkeit bei der Person, die kritisiert wurde, kommt.

Also wäre eines der Grundbedürfnisse – jenes nach (sozialer) Anerkennung – in einer derartigen Beziehung nicht einmal symbolisch vorhanden. Eine entsprechend gereizte Situation in einer derartigen Beziehung bzw. innerhalb der Organisation, in der sich dies abspielt, ist eine sehr wahrscheinliche Konsequenz.

Deshalb macht es Sinn, von Zivilcourage in einem solchen Kontext zu sprechen.

Kritik und Leid

Kritik wird, ja muss geradezu für jemanden, die die Meisterschaft er-reichen will – die Perfektion, eine Leiden-schaft, im wahrstem Sinne des Wortes sein. Denn Kritik zu er-halten ist gewiss ein Leid, Kritik wird er-litten. Somit ist das Glücksgefühl des Erreichens der Vollendung unumgänglich mit Schmerz verbunden.

Kritik hat keine Angst

Angst ist eines der zentralen Elemente des “becoming critical” oder des “Kritisch-Seins”. Die Angst davor, für die ausgesprochene Kritik bestraft zu werden, wo die Formen der Bestrafung ganz vielfältig sein können (Ausschluss, Ignoranz, Verspottung, Kündigung, Beleidigung bis hin zur gewalttätigen Handlungen).

Elfriede Jelink sagte einmal in einem Interview, sie hätte keine Angst.

Vielleicht erklärt genau das den Unterschied.

Woher

Als die Innovationsdebatte ja kaum zu den Ergebnissen führt, die wir uns erhofft oder erwünscht hätten, wäre mein Vorschlag, in dieser Debatte einen radikalen Perspektivenwechsel vorzunehmen, als die Aufmerksamkeit zunächst auf die Produktion von Kritik quasi als Rohstoff für Innovation gerichtet wird1Dabei sei darauf hingewiesen, dass im Unterschied zu den Arbeiten, die im Besonderen mit Dekonstruktion zusammengefasst werden, Kritik ein Ziel, jenes der Veränderung, vor Augen hat. Im anderen Falle ist dies nicht gänzlich abzusprechen, jedoch weitgehend derartig zu sehen..

„Wenn ich nicht Fragen lerne, dann habe ich gleichsam nicht gelernt, was Kritik heißt – und bin dazu nicht fähig. Wenn ich meine, dass Kritik nur heißt, es besser zu machen, dann bin ich wirklich nur ein G´scheitmacher. Die Forderung nach der ´konstruktiven´ Kritik, die die Antwort immer schon vor der Frage will, ist unmenschlich. Wenn man in einer praktischen Situation wüsste, wie man es besser machen könnte, dann wäre es verlorene Zeit, Fragen zu stellen, oder Kritik vorzubringen, es wäre einfach zu tun.“ (E. Kappler im Gespräch mit Claudia Meister-Scheytt 2000, S. 506).

In einem derartigem Verständnis wäre dann eben zu Fragen, „Woher kommt (eine) Kritik?“ oder „Unter welchen Bedingungen ent-steht Kritik?“ oder „Wie lassen sich die Bedingungen kritischen Denken und Handelns verbessern?“.

Natürlich wäre dann ein Wirkzusammenhang von Kritik hin zur Herstellung von Neuem bzw. Neuartigem eine These, die dem vorangeht und natürlich wäre davon auszugehen, dass die Fähigkeit besteht, die Kritik gleichsam in einem aufeinander bezogenen aktiven Dialog in Formen schöpferischen Handelns zu übersetzten. Nimmt man aber einen Wirkzusammenhang zwischen Kritik und Innovation an, dann stellt sich die Frage, wie sich ein solcher gestaltet. Welche Methode, welcher Weg führt uns zur Kritik und über die Kritik wiederum zur Innovation. Dabei lässt sich fragen, welche Rolle die Dekonstruktion als eine Art ziellose und somit wertfreie oder eigeninteresselose Situationsanalyse spielen kann, eine Situationsanalyse, die sozusagen erst die Angriffsfläche oder besser den Zielpunkt für Kritik bilden kann. Denn Kritik ist zielgerichtet, was bedeutet, dass sie Ziele benötigt, auf die sie sich richten kann. Bezeichnet man die Zielrichtung von Kritik, also die Situation im Ist der Wahrnehmung als Position, so stellt sich Kritik als eine Soll-Situation der Wahrnehmung dar und damit als eine Art Gegenposition. Position und Gegenposition erzeugen ein Spannungsverhältnis und dieses Spannungsverhältnis zwischen zwei Wahrnehmungspositionen führt wie vielfach in anderem Zusammenhang beschrieben (Johannson, 2004; Florida, 2002) zu neuartigen Ideen, welche sich in Innovationen transformieren können. Die neuen Panaceae der sog. Kreativgesellschaft, wie Vielfalt, dritte Räume und radikale oder intersektorielle Ideen erscheinen weniger spektakulär, wenn man gedanklich eine Brücke zwischen Kritik und Innovation schlägt. Denn diese als Ursachen oder Gründe genannten Faktoren für Kreativität und Innovation sind nichts anderes als räumlich verortete Kritik. (Schleich, 2006)

Dabei scheint der Prozess der Kritikproduktion (oder Kritikindustrie) nach vollkommen anderen Produktionsparadigmen abzulaufen und mit anderen Formen (Schrift, Kunst, Musik, Rhetorik) als jene der “Gegenstands-Industrie”.

Kritik und Moderne

Das Projekt der “Moderne” bestand vor allem in der Rationalisierung und Rationalitätssicherung von Kritik.

Ein Erlebnis

Ein Bericht zu einem drittmittelfinanzierten Forschungsprojekt wird an einem Institut einer Österreichischen Universität vorgelegt. Dabei werden auch im Sinne von Action Research verschiedene Ergebnisse teilnehmender Beobachtung innerhalb der Institution dargelegt. Diese Ergebnisse wurden in weiterer Folge auch den Beobachteten zur Verfügung gestellt. Die erste Rückmeldung zum Bericht kommt von der Sekretärin, die sich bemüßigt fühlt, Ihren Unmut über den Text auszulassen.

Das ist schon einigermaßen überraschend, als es gewiss nicht zu Ihrer Aufgabe gehört, sich am wissenschaftlichen Diskurs aktiv zu beteiligen. Dennoch wird freundlich und ausführlich auf die relevante Literatur verwiesen, die eben als Voraussetzung notwendigerweise zu lesen ist, um die im Bericht dargelegten Gedanken nachvollziehen zu können.

In weiterer Folge kommt es zu einem so genannten „Brown Bag Lunch“ (diese Bezeichnung steht für ein Essen, bei dem über aktuelle Forschungsaktivitäten berichtet und diskutiert wird – etwas, was in den USA derzeit angeblich sehr mondän sei – auf gut Deutsch würde man sagen, ein „Kaffeekränzchen“), wo über die Ergebnisse aus dem Bericht diskutiert werden sollte. Es wird zunächst ausführlich diskutiert und eine rege Debatte entsteht. Das alles passiert im gut österreichisch-kaiserlich-königlichem-höfischen Gehabe und Getue.

Wesentlich spannender sind die darauf anschließenden Ganggespräche. Dabei erfolgen dann persönlich Angriffe und es werde rechtfertigen eingefordert, wie es jemanden einfallen könne, in einem Text, der noch dazu nach außen gehe, Kritik gegenüber dem eigenen Institut zu äußern. Der Verfasser des Berichts entgegnet, das könne doch im Zuge einer freien Forschung nichts Außergewöhnliches noch Problematisches sein?

Heute arbeiten diese Menschen nicht mehr mit Ihm zusammen.

Im Umgang mit und der Organisation von Kritik innerhalb der Wissenschaft besteht oftmals eine weit verbreitete Aversion bzw. Unkenntnis, sie ist unerwünscht und lästig.

Dabei lässt sich die These bilden, dass Kritik in einer wissenschaftlichen Organisation kaum eine Bedeutung hat und weitestgehend unmöglich ist, als das System verschiedene Mechanismen eingebaut hat, die Kritik verhindern. Warum das derartig auffallend ist, liegt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit daran, dass Wissen die Währung des Wissenschaftsbetriebes ist.

Etwas anders zeigt sich das Bild im Kunstschaffenden Treiben, wo weitestgehend Einigkeit darüber herrscht, dass nur durch Kritik und der unmittelbaren (wenn auch unangenehmen) Auseinandersetzung mit Kritik, die von Innen und von Außen (KulturkritikerInnen, Politik, Gesellschaft, Medien, etc.) laufend vorhanden ist, Qualität und ständige Verbesserung möglich sind.

Ein prominentes und zugleich extremes Beispiel für einen anderen Umgang mit Kritik:

Gustaf Gründgens war nach eigener Aussage und nach Aussagen verschiedener Freunde und Zeitzeugen (vgl. Zusatzmaterial zu „Mephisto“) quasi süchtig nach Kritik, als Quelle für Verbesserung.

Nimmt man Gustaf Gründgens als Maßstab, so scheint seine Einstellung und sein Umgang mit Kritik im Sinne der Erreichung von Perfektion nichts Abwegiges zu sein.